Kanada ist für viele ein Traumland, Synonym für grenzenlose Freiheit und unberührte Wildnis. Doch der Highway 16, der sich über 700 Kilometer durch Kanadas Westen erstreckt, hat es zu trauriger Berühmtheit gebracht: seit Jahrzehnten verschwinden immer wieder vorwiegend junge indigene Frauen spurlos entlang der Bundesstraße, die inzwischen den Beinamen „Highway of Tears“ erhalten hat. 18 Fälle sind es nach offiziellen Polizeiangaben, doch Amnesty International und indianische Opferverbände gehen von einer weit größeren Dunkelziffer von bis zu 500 vermissten und getöteten indigenen Frauen in ganz Kanada innerhalb der letzten 30 Jahre aus. Aufgeklärt wurde bisher kaum ein Fall. Dafür gab es viele Ungereimtheiten bei der Ermittlungs-arbeit, und immer wieder wurde der Vorwurf von mangelndem Engagement, Korruption und Rassismus gegen die kanadische Polizei erhoben.
Es scheint, dass das Leben der First Nations und insbesondere junger indianischer Frauen in Kanada wenig zählt. Der Alltag in den abgelegenen Reservaten ist häufig von Armut, extrem hoher Arbeitslosigkeit von bis zu 70%, Perspektivlosigkeit, Alkoholismus und Drogensucht geprägt. Die Wohnverhältnisse sind oft katastrophal, viele Bewohner leben zusammengepfercht in kleinen Holzhäusern, Bretterverschlägen und Containern, manchmal sogar ohne Heizung, fließend Wasser und Strom. In den letzten Jahren erschütterte eine beispiellose Selbstmordwelle vor allem unter Jugendlichen einige Cree-Reservate im hohen Norden.
Aufgrund der Armut und der Abgeschiedenheit der Reservate ist die Mobilität sehr einge-schränkt, ein eigenes Auto zu teuer, und das Fahren per Anhalter oft die einzige Möglichkeit, Verwandte zu besuchen oder in eine andere Ortschaft zu gelangen. Die Einsamkeit des Highways lässt junge Frauen zu einer leichten Beute für Vergewaltigung und Mord werden. Die Täter laden die Leichen einfach am Straßenrand im Gebüsch ab, und die sterblichen Über-reste der Getöteten werden auch deshalb oft nie mehr gefunden, weil sie von Wildtieren gefres-sen werden.
Doch auch in den kanadischen Großstädten ist das Elend der indigenen Bevölkerung sichtbar. Die Gründe, das Reservat zu verlassen, sind vielfältig: die Suche nach besseren Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, die Notwendigkeit medizinischer Behandlungen, die Attraktivität der modernen Konsumgesellschaft, der Wunsch nach mehr Wohlstand und Teilhabe. Für viele bleibt der Traum jedoch ein Traum, und Obdachlosigkeit, Alkoholismus und Prostitution sind leider nur allzu oft die bittere Realität.
Es gibt viele Inspirationen, die dazu führen, ein Buch zu schreiben, und der Weg, der mich zu dem Roman „Frostmond“ führte, ist lang.
Als ich 1985 in Saskatchewan war, lernte ich die Métis-Schriftstellerin Maria Campbell kennen, deren Autobiographie „Halfbreed“ mich sehr beeindruckte. In dem Buch beschreibt sie ihre von Armut und Rassismus geprägte Kindheit und Jugend und ihren Weg nach Vancouver, der in die Drogensucht und Prostitution mündet. Doch es war vor allem die Begegnung mit meinem in-zwischen verstorbenem Freund Peter Cardinal Junior, einem älteren Cree-Indianer aus Nord-Alberta, die mich mit dem Leben im Reservat vertraut machte. 1980 arbeitete ich als Praktikantin einige Wochen an der Reservatsschule und wohnte bei Peter und seiner Familie, die mich auf-nahm wie eine Tochter. Peter hatte als Kind die leidvolle Erfahrung der Residential Schools, Internatsschulen, in denen indianische Kinder zwangsakkulturiert wurden, gemacht, auch er hatte einen langen Kampf gegen den Alkoholismus geführt und war am Ende zur Tradition zu-rückgekehrt. In den folgenden Jahren reiste ich immer wieder quer durch das Land und besuchte regelmäßig meine Cree-Freunde, fuhr mit ihnen zu Powwows und durfte an Zeremonien wie der Sweating Lodge teilnehmen.
Als ich im Anschluss an mein Lehramtsstudium über zeitgenössische indianische Literatur pro-movierte, bereiste ich im Rahmen eines DAAD-Stipendiums viele Reservate in den USA, da-runter die Blackfeet in Montana, Pine Ridge in South Dakota, die Navajo und Hopi in Arizona und New Mexico. Immer wieder faszinierte mich die Lebendigkeit und Stärke der Tradition trotz oft schwierigster Lebensverhältnisse.
2014 besuchte ich meine Tochter, die ein Auslandssemester in Montreal absolvierte. Die Stadt mit ihrer einzigartigen Mischung aus nordamerikanischer und französischer Kultur begeisterte mich, so dass ich sie spontan als Setting eines Kriminalromans wählte. Das Tatopfer sollte eine junge Stadtindianerin sein. Mir schwebte ein Serienmord vor, alles andere war noch nebulös. An diesem Punkt geschah etwas höchst Seltsames: Im Internet stieß ich zufällig auf einen Be-richt über das Verschwinden indianischer Frauen in Kanada. Ich hatte vorher noch nie davon gehört. Je mehr ich recherchierte, desto traurigere Geschichten offenbarten sich. Das Schicksal dieser Frauen und Mädchen und die vielen unaufgeklärten Morde gingen mir sehr ans Herz. Und so habe nicht ich das Thema, sondern das Thema hat mich gefunden.